3R-relevante computerbasierte Modelle von Nervenzellen:

Auf dem Weg zum besseren Verständnis allgemeiner Prinzipien

Gibt es allgemein gültige Prinzipien, die die Struktur des Gehirns erklären können und kann man solche Prinzipien in der Struktur der Dendriten, der Ausläufer der Nervenzellen im Gehirn, erkennen?

Es ist bekannt, dass Nervenzellen mit ihrer großen Vielfalt an Strukturen verschiedene Funktionen erfüllen und auf dieselben Reize unterschiedlich reagieren können. Aber gibt es auch ein zugrunde liegendes Prinzip, dass es den Dendriten ermöglicht, trotz ihrer unterschiedlichen Längen und Größen, über ähnliche Funktionen, in Form eines ähnlichen elektrischen Verhaltens, zu verfügen?

Die Antwort ist ja:
Eine computergestützte Modellierung und Analyse zeigt, dass die Zellen trotz unterschiedlicher Formen und Größen ihrer Dendriten ähnliche Antworten auf synaptische Reize aufweisen können. Dieses neue Prinzip wird als "Dendritische Konstanz" bezeichnet.

Das Prinzip der dendritischen Konstanz: Die Reaktionen eines Neurons sind unter bestimmten Bedingungen unabhängig von Form oder Größe der Dendriten

Es handelt sich hierbei um die Ergebnisse einer Kooperation der AG von Prof. Jedlicka mit der AG von Dr. Cuntz (ESI, Frankfurt) und Prof. Deller (Anatomie, GU Frankfurt), welche auch in der Fachzeitschrift Neuron veröffentlicht (DOI: 10.1016/j.neuron.2021.08.028) wurden.

Für ihre Untersuchungen verwendeten sie die Kabeltheorie, die von W. Rall (1967) als analytisches Instrument zum Verständnis der Signal-Übertragung in den Dendriten eingeführt wurde. W. Rall wendete hierbei elektrischen Gleichungen an, die ursprünglich aus der Telegraphentechnik stammen und konnte zeigen, dass die Eigenschaften von Nervenzellen direkt von der Dendritenform abhängen können: eine kleine Zelle zeigt dabei eine höhere Erregbarkeit auf Strominjektionen in den Zellkörper als eine größere Zelle.

Die Rolle der dendritischen Konstanz bei der Entwicklung einer Nervenzelle und Hirnerkrankungen wie Alzheimer oder Epilepsie

Die elektrischen Antworten der Zellen auf synaptische Reize ("Strominjektionen") in ihren komplexen und unterschiedlich großen Zellfortsätzen sind jedoch weniger klar. Dabei sind die synaptischen Reize viel näher an der biologischen Realität als die Strom-Reize im Zellkörper.
Anstatt die Reaktionen auf künstliche Strominjektionen in den Zellkörper zu untersuchen, befassten sich die Arbeitsgruppen  daher speziell mit der Frage, wie die Reaktionen der Zellen durch die dendritische Größe und Form im Falle von mehreren, verteilten synaptischen Eingängen entlang des gesamten dendritischen Baums beeinflusst werden. Sie konnten mit ihrer computergestützten Modellierung zeigen, dass die Reaktionen von Zellen für einen großen Bereich bestehender dendritischer Bäume und unter bestimmten Annahmen über mehrere räumliche Größenordnungen hinweg konstant sind.

Die Feuerrate verhält sich auf synaptischen Reize und dendritische Fortsätze ("Kabel") interagieren so, als ob das dendritische Kabel zu einem einzigen Punkt zusammenfallen würde, was die zellulären Antworten unabhängig von der dendritischen Größe und Form macht. Daher bleibt die Funktion der Zelle (d. h. ihre Feuerrate) erhalten, auch wenn die Zelle dendritische Veränderungen erfährt. Infolgedessen kann das Prinzip der dendritischen Konstanz die anatomische Robustheit der Aktivität, also die Aufrechterhaltung des erwünschten Zustandes, der Nervenzelle unterstützen. Dies scheint ein wichtiger Mechanismus nicht nur während der Entwicklung der Zelle zu sein, sondern auch bei verschiedenen Störungen wie der Alzheimer-Krankheit oder Epilepsie.

Denn wenn eine Nervenzelle wächst und reift, trägt das Prinzip der dendritischen Konstanz dazu bei, dass die Aktivität unverändert bleibt. Gleichzeitig kann eine Zelle auf krankhafte Veränderungen bis zu einem gewissen Grad reagieren, indem sie ihren dendritischen Baum umgestaltet. Im Anfangsstadium einer Erkrankung bauen die Zellen ihre Dendriten um, um die Informationsverarbeitung im neuronalen Netzwerk so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Infolgedessen könnte die dendritische Konstanz dazu beitragen, das Auftreten von Krankheitssymptomen wie Gedächtnisverlust bei Alzheimer zu verzögern (siehe dazu die Folge-Studie der Arbeitsgruppen im Journal of Physiology: https://doi.org/10.1113/JP283401).

Folglich scheint die dendritische Konstanz ein allgemeines und grundlegendes Prinzip aller Nervenzellen zu sein. Aufgrund dieses Prinzips kommen sie zu dem Schluss, dass Zellen und Dendriten sich ähnlicher sind als bisher angenommen. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass das Prinzip der dendritischen Konstanz nicht die Bedeutung der vielen bestehenden Plastizitäts-/Lernregeln und lokalen dendritischen Berechnungen innerhalb der Zellen verringert, die zur Individualität des Verhaltens der Zellen beitragen.

Computerbasierte Modelle und das 3R-Prinzip

Diese computerorientierte Arbeit steht im Einklang mit den 3R-Prinzipien des Tierschutzes (replace, reduce, refine). Das Projekt nutzte Modelle und große Datensätze aus frei verfügbaren Online-Datenbanken (Neuromorpho, ModelDB). Die Anwendung von Computermodellen und die computergestützte Nutzung vorhandener experimenteller Datensätze ist hochrelevant für den 3R-Tierschutz, da die Notwendigkeit neuer Tierversuche dadurch reduziert wird. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Vorhersagekraft von Computersimulationen zu verbessern. Deswegen entwickeln die Gruppen von Peter Jedlicka und Hermann Cuntz neue Computermodelle, die über einen weiten Bereich des anatomischen und biophysikalischen Parameterraums - auch dank der dendritischen Konstanz - robust sind. Die Kenntnisse über die dendritische Konstanz können zum besseren Verständnis allgemeiner Prinzipien in gesunden aber auch in pathologisch veränderten Nervenzellen beitragen.

Quellen und weiterführende Informationen

Video von Tierversuche verstehen (TVV)
Wie Computersimulationen dazu beitragenTierversuche zu reduzieren

Paper
A general principle of dendritic constancy: A neuron’s size- and shape-invariant excitability
Hermann Cuntz et al.,Neuron. 2021 Nov 17;109(22):3647-3662.e7,  DOI: 10.1016/j.neuron.2021.08.028

Modelling the contributions to hyperexcitability in amouse model of Alzheimer’s disease
Martin Mittag et al., J Physiol. 2023 Feb 3.,  DOI: 10.1113/JP283401

forum login